CHITOSAN: EIN DESIGNRESEARCH
Das Projekt erforscht, welche Potentiale Chitosan, ein Biopolymer extrahiert aus Schalentieren, Insekten oder Pilzen hat, einen bedeutenden Stellenwert für Design und
Architektur einzunehmen. In Landwirtschaft, Kosmetik und Nahrungsmittelindustrie wird Chitosan bereits vielseitig genutzt, in diesem Projekt wird der Einsatz des am zweithäufigsten in der Natur vorkommenden Biopolymers als Werkstoff erforscht. Dabei werden nicht nur die Eigenschaften, sondern ebenso technologische und gesellschaftliche Wirkungszusammenhänge betrachtet.
Methodisch ist das Projekt dadurch in verschiedene Abschnitte aufgeteilt: Zunächst wird der Kontext des Materials theoretisch untersucht, es folgt ein anschließender thinking-through-making Teil, in dem ich mich praktisch mit den Eigenschaften des Materials bekannt mache und aus dem Materialdemonstratoren hervorgehen. Durch abschließend skizzierte, spekulative Nutzungsszenarien werden Gedankenanstöße geliefert, die als Ausgangspunkt für die Entwicklung sinnvoller Konzepte gesehen werden können.
Chitosan entsteht durch die Veränderung des natürlich vorkommenden Biopolymers Chitin, welches z.B. in Pilzen, Exoskeletten von Insekten und Panzern von Schalentieren enthalten ist. Aus diesen Quellen kann es extrahiert und zu Chitosan weiterverarbeitet werden. Es ist dann in einer leicht sauren Umgebung löslich und kann als Bindemittel verwendet oder zu Biokunststoff weiterverarbeitet werden.
Verschiedene Chitosane werden in Pulverform genutzt und mit anderen Abfallmaterialien, Biopolymeren und Mineralien kombiniert. Dabei entstehen verschiedene Kompositmaterialien: flüssige Hydrogele, die dünne, biegsame Folien hervorbringen und formbare, extrudierbare Pasten, die als Baumaterialien genutzt werden könnten.
In der Erde vergraben, könnten diese am Ende ihrer Nutzung Dünger sein. Würden sie im Meer enden, würden sie sich harmlos abbauen.
Nach der Materialexploration zeichnet sich ab, dass die Formulierung fiktionaler Szenarien um den Themenkomplex Chitosan eine geeignete Methode sein könnten, die Komplexität abzubilden, sowie weiterhin das Interesse von Gestalter*innen zu wecken, sich mit den Möglichkeiten des Materials auseinanderzusetzen.
Chitopia 2050
Für das Erstellen von aussagekräftigen sowie provokativen Szenarien werden die gewonnenen Erkenntnisse aus der vorliegenden Recherche in eine neue Realität übersetzt. Als Anknüpfungspunkt für diese neue Realität, genannt “ Chitopia”, dient mir der Entwurf einer alternativen Gesellschaft von Dunne & Raby: die bioliberale Gesellschaft (vgl. United Micro Kingdoms) Hier wird eine Gesellschaft gezeichnet, die biotechnologische Entwicklungenverherrlicht und innerhalb derer die damit zusammenhängenden Versprechungen, Ansichten und Werte zur Realität geworden sind. Innerhalb dieser Realität werden drei konkrete Szenarien formuliert:
All Organic Solar
Da das Wirtschaften in natürlichen Kreisläufen zu den höchsten Prämissen der Chitopianer*innen zählt, fühlen sich viele Menschen dafür verantwortlich an alternativen, erneuerbaren Energiequellen zu forschen und so wird eine neue Möglichkeit der Energiegewinnung aus Abfallströmen entdeckt: aus den Schalen heimischer Früchte und Gemüse gepresster Saft enthält luminiszente Partikel. Wird Chitosan mit ihnen versetzt, können können All Organic Solar-Filme hergestellt werden. Das gelöste Chitosan wird einfach mit den lumineszenten Partikeln angereichert und zu Filmen gegossen. Getrocknet und in Benutzung können mit ihnen UV-Strahlen in sichtbares Licht umgewandelt werden. Dieses wird durch einfache, integrierte Solartechnik in große Mengen elektrischen Stroms transformiert. Mit den Solarfilmen aus Abfällen können die Menschen den Eigenbedarf an Energie decken: die Filme können durch die nun mögliche Umwandlung von UV-Strahlen in elektrischen Strom, ca. 50% des Tages mit einer hohen Effizienz Strom generieren. Bereits kleine Flächen reichen aus, um eine betrachtliche Menge elektrischen Stroms zu generieren, denn durch gentechnische Eingriffe in Obst und Gemüse sind eine hohe Anzahl an lumineszenten Partikeln enthalten. Der durch die All Organic Solar- Filme generierte Strom kann bei Bedarf sogar gespeichert und später abgegeben werden. Ein Solarfilm in der Größe einer Handfläche reicht für viele alltägliche Anwendungen der Chitopianer*innen aus, die ihren Energieverbrauch flexibel an die natürlichen Kreisläufe anpassen.
Decomposition Designer*in
Decomposition-Designer*innen bedienen sich biotechnologischer Verfahren und arbeiten gemeinsam mit Mikroorganismen wie Pilzen, Bakterien und Enzymen, die sie nutzen, um aus Altem Neues zu schaffen. Durch künstliche gestalterische Interventionen steuern sie den Zerfall der Architekturen. Die Zersetzung durch Mikroorganismen wird zum Gestaltungsprozess. Decomposition-Designer*innen sind dafür zuständig, dass Gegenstände und ganze Lebensräume sich auf ästhetische Weise abbauen - und zwar direkt an Ort und Stelle. Sie wissen, mit welchen materialspezifischen Mikroorganismen gearbeitet werden kann, um mit ihren Wachstumsprozessen ästhetisch ansprechende Muster zu erzeugen und die bestehenden Biomaterial-Strukturen abzubauen. Dieser „ästhetische Zerfall“ ist in Chitopia geduldet und gewünscht, da die Veränderlichkeit und Vergänglichkeit von Materialien als erstrebenswerte Eigenschaften und der Zerfall als notwendiges System der Reorganisation und Erneuerung angesehen werden. Das Wort „Stabilität“ beschreibt nicht länger einen statischen Zustand, sondern einen dynamischen Status, der abhängig von ständiger Erneuerung ist. Das Zersetzen gehört für die Bioliberalen ebenso zum Gestaltungsprozess dazu, wie das Erbauen. Das Verenden von Material, das bislang mit einem Versagen gleichgestellt war, gehört nun ebenso zum System, wie die Eingliederung von Material-inhärenten Veränderlichkeiten und das Verhandeln zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten. Es ist einfach keine Option mehr, allein für menschliche Annehmlichkeiten zu gestalten.
Gene*sects
Ganz im Sinne der bioliberalen Gesellschaft
können und dürfen natürliche Prozesse optimiert werden. Dabei kommt wieder einmal der Biotechnologie eine Schlüsselrolle zu. Denn das
entstandene fundamentale Verständnis für biologische Prozesse in der Bevölkerung führt zu einer Revolution von Möglichkeiten der Optimierung genetischer Vielfalt und genetischer Eigenschaften. In diesem Sinne gilt die genetische Vielfalt der Natur als gemeinsames Kulturgut, welches es im Sinne des biodiversen Gemeinwesens weiterzuentwickeln gilt.
Durch den freien Umgang mit synthetischer Biologie verfügen immer mehr Chitopianer*innen über die Fähigkeiten, Insekten mit Hilfe von CRISPR/Cas eigenständig modifizieren zu können. Ganze Plattformen, auf denen sich über die Möglichkeiten für sogenannte Gene.Sects ausgetauscht wird, entstehen und Ansätze werden gemeinschaftlich weiterentwickelt: Mit dem Ziel, den Chitingehalt zu erhöhen, werden Insekten so modifiziert, dass sie beispielsweise massive Exoskelette haben, öfter Exuvien entwickeln und abwerfen oder in ihrer gesamten Gestalt wachsen. Es sind bereits Grashüpfer mit riesigen Schenkeln, sich 8-mal häutende Mehlwürmer und gigantische Soldatenfliegen entstanden. Einige dieser Insektenarten können so einen Chitinanteil von bis zu 75% erreichen, die Chitinausbeute ist stark gestiegen. Die neuartigen Insekten nehmen
als Proteinlieferanten und Materialquelle für die bioliberale Bevölkerung einenunangefochten hohen Stellenwert ein. Und ob mit diesen sagenhaften Entwicklungen schon die Grenze erreicht ist, ist fraglich, denn schließlich ist die genetische Vielfalt für Jede*n zugänglich und wächst deshalb stetig.